Die Hohe Straße

Auf Alten Wegen:

Die Hohe Straße zwischen Kocher und Jagst

Die Hohe Straße ist ein uralter Weg, eine Fernverbindung, auf der Menschen seit Jahrtausenden unterwegs sind. Sie wurde im Mittelalter unter anderem als „Königsweg“ benutzt, die Römer reisten auf ihr; die vielen keltische Grabhügel in ihrer unmittelbaren Nähe legen nahe, dass sie schon in keltischer Zeit als wichtiger Weg in Gebrauch war, und selbst jungsteinzeitliche Funde wurden in ihrem Verlauf gemacht. Sie mag also sogar noch viel älter sein.

Ich bin diesen Weg gelaufen, nur seinen Abschnitt, der sich auf dem Höhenrücken zwischen den Flüssen Kocher und Jagst hinzieht, also von Bad Friedrichshall-Jagstfeld, wo die beiden Flüsse nur 2 km voneinander entfernt in den Neckar münden, bis Heimsheim, wo die Hohe Straße die Jagst, die ebenso wie der Kocher nach Süden umgebogen ist (oder vielmehr von Süden kommt) überquert, um Richtung Rothenburg und Nürnberg weiterzuführen.

Ich bin den Weg nicht am Stück gelaufen – so sportlich bin ich nicht – , sondern in Abschnitten, über mehrere Monate (von Mai bis November 2015) verteilt. Und zwar nicht nur aus historischem Interesse. Auch nicht nur aus Freude an der Landschaft, die zum Teil bezaubernd ist, zum Teil aber auch Zerstörungen aufweist. Vielleicht kann ich es vergleichen mit den Motiven der Menschen, die den Jakobsweg gehen, oder zumindest einen Teil davon. Eine Art Pilgerschaft, aber nicht im christlichen Sinn und auch nicht auf ein punktuelles Ziel (wie Santiago de Compostela) ausgerichtet. Ich möchte meine Reise – denn eine solche war es für mich – eher als „schamanisch“ bezeichnen. Eine Reise im Außen und im Innen. Ein Weg zu mir und in die Vergangenheit und, am wichtigsten, in der Gegenwart. Ein Weg, kein Ziel.

Alte Wege sind wichtig für mich, weil sie wichtig sind für die Landschaft, in der ich mein Leben verbringe. Durch ihr hohes Alter und die unzähligen Menschen und Tiere und anderen Wesen, die auf ihnen gereist sind, haben sie die Landschaft mitgestaltet, nicht nur äußerlich, sondern in ihrem geistigen und spirituellen Gehalt. Die australischen Ureinwohner bezeichnen so etwas als „Traumpfade“.

Eine Landschaft ist für mich nicht nur die Summe aus Bergen, Tälern, Flüssen, Wäldern und Ortschaften. Eine Landschaft ist für mich (wie für meine schamanischen Vorfahren) ein lebendiges Wesen mit einem Charakter und einem Bewußtsein. Das bedeutet, man kann mit ihr in Verbindung treten, auf vielfältige Art und Weise. Auf aufbauende und auf zerstörerische. Ich habe das „Treten“ wörtlich genommen und die Landschaft „betreten“, weil ich sie so am besten verstehen lernen kann. Auch und gerade dabei habe ich nicht nur die physische Landschaft unserer „alltäglichen Wirklichkeit“ wahrgenommen, sondern auch die anderer Wirklichkeiten, zumindest manchmal. Das wird nicht allen Lesern so gehen. Aber wenn ich einige dazu anregen kann, wieder auf alten oder auch neuen Wegen zu gehen, bewußt zu gehen, und möglichst viel wahrzunehmen, was links und rechts ist und was (oder wer) ihnen dort begegnet, dann freue ich mich.

Ich danke den Menschen, die vor mir die Hohe Straße erwandert und darüber geschrieben haben: Dr. Emil Kost (1948), der sie in ihrem Verlauf sozusagen wiederentdeckt hat und Leo Michls, der nach den Beschreibungen von Emil Kost das Gleiche Anfang dieses Jahrhunderts (2007) getan hat (hohe-strasse.michls.de).

Außerdem dem englischen Pfade-Wanderer und Schriftsteller Robert Macfarlane, dessen wundervolles Buch „Alte Wege“ mich noch lange begleiten wird.

„Mir scheint, dass Landschaften nicht wie ein Steg oder eine Halbinsel in uns hineinragen, bis zu einer bestimmten Tiefe und in begrenztem Umfang, sondern wie das flirrende, unkartierbare Sonnenlicht, das alles durchdringt und erhellt. Was wir aus Orten machen, das können wir sagen, wenn auch manchmal verschämt – aber zum Ausdruck zu bringen, was Orte aus uns machen, fällt uns ungleich schwerer. Seit einiger Zeit glaube ich zu wissen , dass es zwei Fragen gibt, die wir jeder Landschaft, die uns beeindruckt, stellen sollten. Die erste: Was weiß ich, wenn ich an diesem Ort bin, was ich nirgendwo sonst wissen kann? Die zweite, auf immer unbeantwortete: Was weiß dieser Ort von mir, was ich selbst nicht wissen kann?“ (Robert Macfarlane: Alte Wege, Verlag Matthes und Seitz 2016, S. 29)

Und nun: GUTE REISE!

Ich geh den Weg, den Alten Weg,

ein Schritt und noch ein Schritt,

die Tiere gehen mit.

Ich geh den Weg, den Alten Weg,

ein Schritt und noch ein Schritt,

die Geister gehen mit.

Ich geh den Weg, den Alten Weg,

ein Schritt und noch ein Schritt,

die Ahnen gehen mit.

Info: Schamanismus

Da ich öfter das Wort „schamanisch“ benutze, das nicht jedem geläufig ist, möchte ich kurz erklären, was ich damit meine.

Der Schamanismus ist vermutlich die älteste Form spirituellen Ausdrucks, die es bei Menschen gab. Schamanen waren und sind Vermittler zwischen den Welten, Heiler, Berater, Hersteller und Erhalter eines (über)lebenswichtigen Gleichgewichts zwischen verschiedenen Kräften. Über den Schamanismus als Kultur bei verschiedenen, über die ganze Welt verteilten Völkern in Vergangenheit und Gegenwart gibt es eine umfangreiche Literatur.

Ich bin keine Schamanin. Ich habe mehrere traditionelle Schamanen persönlich kennenglernt und einen „Heidenrespekt“ (im wahrsten Sinne des Wortes) vor ihrer Kraft, ihrer Disziplin, ihrer Persönlichkeit und ihrem Können empfunden. Schamane wird man nicht, weil man es sich aussucht. Schamane wird man durch Berufung, und ich bin froh, dass ich diese Berufung nicht habe, weil das ein absolut harter Weg ist.

Zweierlei habe ich jedoch von den schamanischen Kulturen gelernt und übernommen (auf dem Weg über den sog. „Core-Schamanismus“, wie ihn Michael Harner und die Foundation for Shamanic Studies lehrt):

  • Die Weltsicht, das ALLES nicht nur belebt, sondern auch beseelt und be“geistet“ ist: jede Pflanze, jeder Baum, jedes Tier, jeder Stein, jeder Berg, jeder Wald, jeder Fluss…… Und dass der Mensch nicht die „Krone“ und schon gar nicht „Herr“ der Natur ist, sondern nur ein kleiner Teil. Wir haben viele, viele ältere Geschwister. Wir SIND ein Teil, wir stehen nicht außerhalb oder oberhalb der Natur. Ob wir das wahrnehmen, verstehen, wollen oder nicht.

  • Bestimmte schamanische Techniken (z.B.“schamanische Reisen“), die mir erlauben, hinter die „alltägliche Wirklichkeit“ zu schauen, in einige der zahlreichen weiteren Realitätsebenen, die wir mit unserem Alltagsbewußtsein nicht wahrnehmen.

1. Wegstück:   Von Bad Friedrichshall-Jagstfeld bis zur Kreuzung mit der Straße zwischen Stein am Kocher und Neudenau (Mai)

Dieser Weg, den ich noch nie gegangen bin, ist mir vertraut. So vertraut, als sei ich ihn als Kind jeden Sonntag mit meinen Großeltern gelaufen.

Ich muß weitergehen, immer weiter, als sei das Gehen der natürliche Zustand und das Verweilen das Außergewöhnliche.

Blühender Holunder duftet in den Hecken, die den Weg begleiten, auch sie unterwegs, dem sanften Auf und Ab des Weges folgend, der sich immer auf dem Höhenkamm hält. Weit geht der Blick nach links, weit nach rechts. Ein Schloßgut brütet wie eine Henne im Nest einer Bauminsel. Ein Bussard steigt vom Feld auf. Am Wegrand roter Klatschmohn und weißes Leimkraut mit aufgeblasenen Köpfen und Schierling mit violetten Stengeln und filigranen Blattwedeln.

Eine Bodenwelle verbirgt mir den Fortlauf des Weges, und auf ihrem obersten Punkt taucht ein Wolfskopf auf. Auch die Wölfe, die es hier einmal gab, laufen also mit, unsichtbar das Rudel um mich herum. Nur der Leitwolf ist sichtbar, als Schäferhund getarnt, hinter ihm der außer mir einzige Fußgänger auf der ganzen Strecke.

Ich tauche in einen grünen Hohlweg ein, von alten Bäumen bewacht. Manchmal öffnet sich ein Fenster, das hereinfallende Licht und auch der hinausstrebende Blick grün verschleiert.

2 Vor Heuchlinger Spitz

Die große alte Pappel über dem Kriegerdenkmal, die hier früher stand, ist schon seit Jahren nicht mehr da. Nur eine militärisch akkurat beschnittene Hecke über sinnlosen Toden. Auch diese Ahnen gehen mit, niemand kann sie sich aussuchen.

Die Bäume und Büsche bilden Tore, grüne Tunnel. Heckenrosen mit Blüten porzellanrosa und dünnwandig wie kostbare chinesische Tassen.

Der Weg ist tatsächlich ein „Geleise“: zwei Fahrspuren aus Betonplatten, dazwischen ein Grünstreifen, das sieht fast aus wie Schienen. Auf der einen Seite begleitet mich ein Alleereihe von Apfel- und Birnbäumen, auf der anderen Mais- und Kohlfelder mit Lücken, auf denen flächig der nackte Boden zutage tritt. Ein weißblühendes Erbsenfeld bildet eine liebliche Abwechslung.

4 zwischen Heuchlinger Spitz und K2140 Obstbaumallee

Schon, wie kurz oder lang war der Weg? überquere ich ein Straße und lande bei einem alten Wegweiser, in den Stein eingemeißelt „Kresbach 1/4 Stund“. Nur eine der Seiten, die wohl später beschriftet wurde, gibt die Entfernung in Kilometern an.

25 alter Wegstein an L720

2. Wegstück:  Von der Straße zwischen Stein am Kocher und Neudenau bis zum Roten See (Juni)

Der Weg ist ein Wiesenweg geworden. Der Herrscher der Wege wächst dort, der Breite Wege-rich, „Fußtapfen des weißen Mannes“ genannt von den amerikanischen Ureinwohnern. Den umgekehrten Weg nahm die Strahlenlose Kamille mit ihren gelben Knopf-Köpfchen, von Nordamerika nach Europa, auch sie eine Wege-Pflanze, unberührt von über sie hinwegtretenden Füßen und hartem Boden.

30 Breitwegerich

Ein Stück „Ödland“ entödet die Feldflur: hohes Gras, daraus hervorragende Holunder- und Haselsträucher, ein paar Birken. Blühende Brombeeren gischten über eine Hecke – wie mag sie im Spätsommer aussehen, wenn die Beeren reif sind?

Heute bin ich nicht die Einzige, die unterwegs ist. Ein Hase hoppelt langsam vor mir her, bleibt stehen, dreht sich auf seinen Hinterbeinen herum und läßt die Vorderbeine dazwischen herunterbaumeln. Die riesigen Ohrlöffel sind auf mich gerichtet wie pelzige Satellitenschüsseln. Er kommt zum Schluß, daß ich nicht oder kaum gefährlich bin und hoppelt weiter mir voran. In einiger Entfernung, nicht weit weg, aber doch wie in einer anderen Welt, liegt ein in eine flache Senke gebettetes Dorf, die Dächer mit den Solarflächen spiegeln im Licht.

38 Wer bist du denn

Der Weg bewegt sich in sanften, weit ausholenden Schwüngen. Langsam nähert sich der Waldrand.

„Man muß weggehen können

und doch sein wie ein Baum:

als bliebe die Wurzel im Boden,

als zöge die Landschaft und wir ständen fest.“ (Hilde Domin)

Die Wahrnehmung schwankt: Wer zieht? Wer steht fest?

Am Waldrand finde ich in bestimmten Abständen bemooste Grenzsteine. Auf ihrer nördlichen Seite die Buchstaben KW (Königreich Württemberg) mit den drei Geweihstangen, auf der südlichen GB (Großherzogtum Baden) mit einem gestreiften Wappenschild.

43 Alter Wegstein am Aspen

Aus dem Feld, auf dem bläulichgrüner Winterweizen steht, springt ein Reh auf, aus dem Schlaf geschreckt. Da ich auch in seinen Augen nicht sonderlich bedrohlich bin, entfernt es sich in recht gemächlichen Sprüngen.

Der Weg, der meist sehr gerade verläuft, umkreist das „Gründle“, eine Senke mitten in der Hochfläche. Buchen und Fichten begleiten mich auf der rechten Seite, auf dem Boden Waldmeister und die weißblühende Kriechrose mit ihren herzförmigen Blütenblättern.

Die Hellenklinge trennt einen Waldteil vom großen Rest ab. An ihrem Rand wuchten gewaltige Buchen und Eichen empor, strecken Schlangenäste über den Rand des Feldes.

53 Waldrand an der Hellenklinge mit alten Eichen

Der Waldeingang beim „Löser“ empfängt mich mit kühlem Schatten. Liegengebliebene Stapel gefällter Bäume werden von Moos und Farnen überwuchert und vom Wald zurückgefordert. Als Kontrast eine brutale Reminiszenz: Eine Strecke weit sieht der Weg aus, als hätte ein Panzermanöver dort stattgefunden. Tief eingewühlte Radspuren, zerstörter Waldboden, freigelegte Wurzeln, verschlammte Pfützen.

Beim „Kleinen Rassler“ mündet der Weg in die Landstraße. Keine Geleise mehr, nur ein schnurgerades, glattes Asphaltband. Links von ihm sieht man im Wald, wenn man genau hinsieht, noch alte Wegspuren, zugewachsen von Brennesseln und Efeu, darin weggeworfene Flaschen und Müllsäcke.

3. Wegstück:  Vom Gewann „Roter See“ bis zum Seehaus (August)

Irgendwann gab es hier einen See. Jetzt ist dieses Waldstück eingequetscht zwischen Autobahn und Landstraße. Aber die Senke mittendrin hat einen auffällig flachen Boden. Vielleicht wurden hier die Zug- und Reittiere getränkt, bevor sie auf der Hohen Straße weiterzogen, die ein Stück weit jetzt Autobahn ist, unbegehbar, außer von Geistern vielleicht. Eine Fußgängerbrücke mit blitzeblau gestrichenem Geländer führt darüber. Darunter donnern die Autos und LKWs hin. Warum das Geländer wohl so blau gestrichen wurde?

68 Fußgängerbrücke über A81 hinter Roter See

Als der Wald hier noch Wald war, ging in der Nähe des Wachhäusles der Kopflose Reiter um. Kopflose Reiter gab es viele, meistens die ruhelosen Geister ungerechter Herren, die schon zu Lebzeiten Schrecken verbreiteten und nach ihrem Tod damit nahtlos fortfuhren.

Irgendwo treffen sich die Hohe Straße und die neue Landstraße wieder, etwa dort, wo das Gewerbegebiet beginnt. Es gibt keinen Straßenrand, auf dem man gefahrlos laufen kann, also steige ich über die Leitplanke und laufe durch das nasse Gras – endlich regnet es wieder nach einem knochentrockenen, dörrheißen Sommer! – und durch den Müll, der aus den Autofenstern geflogen ist: Plastikbecher, volle Mülltüten, Chipspackungen, Flaschen, Zigarettenschachteln. Von den vorbeirauschenden Autofahrern ernte ich erstaunte Blicke, aber zum Glück haben sie es viel zu eilig. Die Fabrikgebäude sehen aus wie riesenhafte graue Kartons oder gigantische Haftanstalten. Nur die Buchstaben darauf sind bunt. Sammellager für Kadaver, sauber in Plastikfolie verpackt. Sogar die Fliegen fehlen. Wenn es welche gäbe, müßten es Schmeißfliegen sein, groß wie Hubschrauber.

70 Kaufland Fleischlager

Der Tag reicht nicht aus für all die Häßlichkeit. Für die Nacht stehen zwanzig Meter hohe Strahler bereit.

Wieder führt die Straße in den Wald hinein. Auch hier Wunden über Wunden, breite Schneisen, gigantische Betontürme, einhundertfünfzig Meter hoch, hier einer, da, dort. Zwischen den Baumstämmen hindurchschauend habe ich kurz den Eindruck, mitten im Wald sei ein Jumbojet abgestürzt. Viele Jumbojets. Nur ordentlicher und ohne Brandspuren.

75 Windradbaustelle vor Seehaus

Die alte Straße bleibt im Unterholz versteckt.

Vielleicht findet sie dort keiner.

Vielleicht überlebt sie so.

Den Beginn der Seehauslichtung, auf der schon seit dem Mittelalter ein Rasthaus lag, bewacht eine bis auf einen kläglichen Rest verstümmelte Eiche. Türme rings am Horizont. Ohne Türmer. Glatt und grau, unten mit ein paar Streifen wie Socken geringelt. Das soll es besser machen.

An der alten Raststation, die nicht mehr Gasthaus sein darf, ein mobiler Imbiß für die Bauarbeiter. Das Haus selber verrottet vor sich hin, die Terrasse ist überwuchert.

Dort, wo die Hohe Straße sich von der Landstraße verabschiedet und wieder in den Wald hineinführt, ein Schild: „Wald und Waldwege gesperrt, Mo – Fr“.

Der Geist des Kopflosen Reiters prescht an mir vorbei, in den Wald hinein.

4. Wegstück:   Vom Seehaus zum Trautenhof (August)

Der Waldweg ist zu einer Waldstraße geworden. Zwischen den Bäumen ragt die nächste Betonsäule hervor.

Es fällt mir schwer, an die Vergangenheit des Weges zu denken. Südlich vom Seehaus lag im Mittelalter der Weiler Degelbach. Weiter im Wald lag Herterichhausen, irgendwo findet man dort im Unterholz – wenn man viel Glück hat – noch eine alte viereckige Brunnenfassung. Wieviel wird von der Gegenwart übrigbleiben? Hoffentlich nicht mehr.

Bei einer Abzweigung zu weiteren Baustellen verbreitert sich die befestigte Schotterstraße zum Aufmarschplatz. Kurz dahinter liegt ein „Waldbiotop“: eine kleine Doline, die Vorderseite kahlgeschlagen, nur im Rücken hat sie noch Bäume. Ein Biotop?

Die nächste Baustelle schließt sich an. Der Sockel dick wie ein Kirchturm, nein, viel dicker, das muß schon eine Kathedrale sein. Allerdings viel, viel höher. Kräne, Bauteile und die allgegenwärtige Security, deren Augen jedem Wanderer mißtrauisch folgen.

83 W-II-3

Die Waldstraße verbreitert sich wieder zu einer rechtwinkligen Kurve. Geradeaus, hinter dem durch LKW-Spuren zerfurchten Rand, wachsen ein paar Büsche. Dort führt der verborgene Teil der Hohen Straße weiter. Ich schlängele mich hinein.

Die Wasserlöcher auf der Wegtrasse, die in den letzten Jahren Fröschen als Kinderstube gedient haben, sind durch den heißen Sommer ausgetrocknet. Nur der Wasserpfeffer hält sich noch darin und zwei oder drei kleine, glänzend weiße Pilze mit Halbkugelhut auf dünnem Stielchen.

Ich stapfe weiter auf der holperigen alten Wegspur, da schimmert auch schon etwas Helles durch die Bäume, um ein Vielfaches breiter als der ankommende Weg: der nächste Turm. Die jahrtausende alte Hohe Straße endet hier in einem Erdwall, ein großes Stück wurde weggebaggert. Ich krabbele über die straßenbreite Zufahrt, ein kleiner Käfer, und die Schotterböschung auf der anderen Seite wieder hinunter. Aber wo ist die Hohe Straße? Ich bin völlig verwirrt. Ich weiß noch genau, wie es vorher hier aussah, aber es ist alles fort.

91 zerstörte Hohe Str. bei J-1

Also gehe ich zum Hauptweg und dort ein Stück entlang. Wieder in ermüdender Eintönigkeit große Schotterflächen und weitere aus dem Wald ragende Türme. Ich suche nach der Einmündung des „versteckten“ Abschnitts, finde sie schließlich und laufe dieses Stück des Alten Weges zurück, bis dorthin, wo er unterbrochen ist. Irgendwo hinter dem großen Erdwall. Dann kehre ich um, damit ich diese Strecke weiter ablaufen kann. Hier sieht es noch so ähnlich aus wie vorher, nur scheinen es weniger große, alte Bäume zu sein. Deshalb bin ich glücklich, als ich die große alte Eiche am Wegrand finde mit ihrem enormen Stamm: Sie ist noch da! Die alte Wächterin. Möge sie bis zu ihrem natürlichen Ende hier stehenbleiben (das kann noch mehrere Jahrhunderte dauern). Man darf ja träumen….

101 dito

Ein alter Grenzstein mit einem „S“. Der Weg ist von einer dicken Laubschicht bedeckt, das letzte Stück vor der Einmündung in den Hauptweg durch hohe Stauden zugewuchert.

Dann stehe ich wieder auf der Schotterstraße, im „Straßenschlägle“, das eher Straßenschlag heißen sollte. Ein Blick nach oben in die Baumkronen: ein Betonturm, was sonst. An der nächsten Baustelle warnt ein Schild vor schrecklichen, todbringenden Gefahren beim Betreten der Baustelle; ich schleiche eingeschüchtert am linken Wegrand vorbei, von zwei wachsamen Augen aus einem Auto verfolgt. Der nächste Turm kommt in Sicht. Schnell weiter.

Ich renne den Weg, den Alten Weg…. nichts wie weg aus diesem Wald, der einmal meine Zuflucht und Kraftquelle war.

111 bei J-3

Am Waldausgang (auch er ist viel breiter und kahler geworden) wende ich mich nach links. 60 m lange Rotorblätter liegen dort vor dem nächsten Turm. Wie komme ich da vorbei? Aber es geht, ich kann darum herumlaufen. Weiter, an Kränen und Baggern vorbei. Ich atme erst einmal auf. Als wenn auch sehr breiter Feldweg läuft die Hohe Straße am Rand des letzten Waldzipfels entlang. „Wüstenzweiflingen“ heißt er, hier muß es einst einen kleinen Weiler namens Zweiflingen gegeben haben. Auf der alten Oberamtskarte reichte der Wald bis zum Trautenhof, den ich vor mir liegen sehe. Die „Seewiesen“ waren damals Wald.

Ich drehe mich noch einmal um. Eine große Ackerfläche, am Waldrand und aus dem Wald herausragend sehe ich von hier aus sechs Türme.

116 dito

Ich wende mich wieder um, dem Trautenhof zu. Als ich ihn erreicht habe, höre ich hinter mir den vertrauten Ruf „Wiuwiuwiu“. Zwei Rotmilane kreisen über dem Wald. Noch.

5. Wegstück:  Vom Trautenhof bis zum Edelmannshof (Ende August)

Immer an der Kreisstraße entlang, mal auf dem Rand des Asphalts, mal auf dem Grasstreifen neben einem Feld. Die Sonne brennt heiß. Äpfel röten sich an den Bäumen. Rechts in einer Senke mitten in den Feldern ein Häuflein Wald, dunkelgrün, geheimnisvoll. Romertsbusch – der Rest eines größeren Waldes?

Beim Mittleren Pfitzhof das berühmte Batzenhäusle, ein Wirtschaft in einem schönen alten Haus, früher sicher eine wichtige Raststation, jetzt liegt es ein wenig verloren in der Ebene an einer kleinen, unwichtigen Straße. Gegenüber eine ebenso schöne alte Scheune.

127 Mittlerer Pfitzhof

Eine Kreuzung mit der Straße zwischen Jagsthausen und Sindringen, das Gewann neben ihr Richtung Jagsthausen heißt „Am Totenweg“. Hier wurden wahrscheinlich die Verstorbenen ins Tal zum Friedhof gebracht. Noch früher hatten sie es nicht so weit: viele keltische Grabhügel liegen in unmittelbarer Nähe zur Hohen Straße, zum Beispiel beim Trautenhof im Gewann Schwarzenberg, inzwischen längst flachgepfügt.

Das Jagsttal ist nur als breiter grüner Saum zu erkennen. Nichts verrät von hier, daß der Fluß gerade um sein Überleben kämpft. Eine Giftwelle, durch das unbeabsichtigte Einleiten von mit Ammoniumnitrat verseuchtem Löschwasser verursacht, treibt den Fluß hinab.

Nach der Kreuzung geht es die „Buckeläcker“ hinauf, der Schweiß läuft mir in die Augen und über den Hals, mein Herz beginnt unregelmäßig zu schlagen. Ich muß mich unbedingt kurz ausruhen, suche mir einen Birnbaum, dessen Früchte noch nicht wespenbesetzt am Boden liegen. Sonst gibt es kaum Schatten auf dieser Strecke, und es ist schon im Schatten 34°C heiß.

139 Bergauf an den Buckeläckern

Hundert Meter weiter kreuzt der Limes die Hohe Straße, nur an einem Schild zu erkennen. Eine längst bedeutungslos gewordene Grenzlinie, wie mit dem Lineal über Berg und Tal und Fluß gezogen. Noch in den 40er Jahren stand hier ein römischer Wachturm.

Weiter in der glühenden Sonne, wenn auch am Rand des „Schönbüchle“ entlang, der seinen Schatten aber nach der anderen Seite wirft. Und selbst sehr leidend aussieht: überall welk herabhängende Blätter, staubiges Grün.

Zum Glück geht es zum Edelmannshof – sicher einst das Gut eines Adligen – leicht bergab. Überragt wird der Weiler von einem Wasserturm mit dem riesigen Gemälde eines Wasserhahns, aus dem ein dicker Tropen quillt.

Wasser wäre jetzt genau das Richtige….

150 Wasserturm am Edelmannshof

6. Wegstück: Vom Edelmannshof bis zum Kuhschlag im Klosterwald (September)

Wieder am Wasserturm. Vorbei an einer alten gemauerten Scheune, vielleicht der letzte Rest des ursprünglichen „Edelmannshofes“? Schnurgerade zieht sich die Straße hin bis zum Waldstück „In der alten Ernsbach“. Am Wegrand blüht das leider selten gewordene Eisenkraut, das sowohl für die Kelten als auch die Römer eine besonders heilige Pflanze war. Ein paar Meter weiter liegt ein toter Kleiber am Straßenrand, das Köpfchen verdreht, der Hals vermutlich bei einem Zusammenprall mit einem Auto gebrochen.

Auf dem Feld steht ein aus der Ferne sehr seltsam anmutendes Gefährt auf Holzrädern, wie eine laubgeschmückte Kutsche, der die Pferde ausgespannt wurden. Waldkönigin und -könig haben sie zurückgelassen. Hoffentlich nicht auf der Flucht…

158 Tarnstand auf Karren

Die Straße tritt in den Wald ein. Die schwarzglänzenden Beeren des Attichs hängen, vom eigenen Gewicht nach unten gezogen, schwer an ihren Stauden.

Ein Schild weist den Weg zum Weihenbrunnen. Einst anscheinend ein geweihter Brunnen – wie der Name sagt -, heute eine kleine, aber tiefe Senke im Feld, von Bäumen und Büschen fast ganz versteckt, mit dunkel schillernder Wasserlache.

Quasi mitten im Wald, von ein wenig Wiese umgeben, liegt der Neuhof mit seinen großen, häßlichen Wirtschaftsgebäuden. Hier verläuft die Grenze zum Landkreis Hohenlohe.

Natürlich mache ich den kleinen Abstecher nach Neusaß. Der Überlieferung nach sollte hier ursprünglich das Kloster gebaut werden, das dann doch lieber im Jagsttal errichtet wurde – im „Schönen Tal“, nicht auf der unwirtlichen, menschenleeren Höhe.

Hier aber ist der ältere heilige Ort: eine Quelle, zu der die Menschen heute noch wallfahren (meist mit dem Auto, schließlich heißt es ja nicht „wallgehen“). Eine kleine Grotte mit der üblichen kitschigen Marienfigur. Aber der Quellnymphe ist es vermutlich egal, unter welchem Namen sie verehrt wird. Sie spendet unbeirrt ihr heilendes Wasser.

Und seit vier oder fünf Jahrhunderten steht 100 m davor die Wächterin, die uralte, riesige Linde, ein Gebirge von einem Baum, mit ihrem längst ausgehöhlten Stamm, in den die Kinder gerne hineinklettern, weil sie sich dort geborgen fühlen.

166 Alte Linde von Neusaß

Das Gewann, das dort an die Hohe Straße grenzt, heißt „Marktplatz“. Dort wurden wahrscheinlich zu Wallfahrtszeiten Märkte abgehalten.

Weiter geht es wieder zum Wald, endlich nicht nur ein übriggebliebenes Fetzchen, sondern ein größeres, zusammenhängendes Stück, der Klosterwald. Vorsichtshalber stellte man ein Kreuz an den Eingang (um welche Geister zu bannen?), 1792 vom Förster Schad gestiftet, schon zwei Mal erneuert, das jedoch bereits wieder bedenkliche Risse zeigt.

Immer noch geht es am Straßenrand entlang. Neben einer Parkbucht ist auf der Karte ein Naturdenkmal eingezeichnet. Wo ist es nur? Da, eine größere, aber noch nicht ungewöhnlich alte Eiche, die hoffentlich die Chance noch erhält, sehr alt zu werden, mit einem daran befestigten Schild „Fidel-Koch-Eiche 18.8.1975“. Ich kenne zwar Fidel Castro, aber wer war Fidel Koch?

Vor der Kreuzung mit der vielbefahrenen K 2377 verläßt mich der Mut und auch die Lust, mich vor dahinbrausenden Autos in den Straßengraben zu retten. Ich mache eine Ausnahme und einen kleinen Umweg über einen Waldweg, der mich am Langen See vorbeiführt, der großflächig mit blühenden Seerosen bewachsen ist. Unter der Oberfläche weht Nixenhaar.

Zum Glück zweigt die Hohe Straße bald wieder ab, am kleinen Schild „Westernhausen“. Das ist nur ein Miniatursträßchen, das sich hier in den Wald hinabwindet, das Gewann daneben heißt „Straßensee“.

7. Wegstück:  Vom Kuhschlag bis Diebach (Oktober)

Die Hohe Straße trennt sich hier glücklicherweise von jeder Fahrstraße und führt als Waldweg weiter, ausnahmsweise sogar ganz offiziell mit einem hölzernen Schild „Hohe Straße“, und zwar im Gewann Kuhschlag (früher einmal gerodet, um Platz für eine Kuhweide zu schaffen?).

183 Hier steht es tatsächlich mal auf einem Wegweiser

Eine alte, knorrige Buche ragt am Wegrand empor. Die Blätter der Bäume verfärben sich schon, ein Goldton zieht durch den Wald. Es wäre so schön hier, wenn — wenn ich es fertig brächte, die Spuren des modernen Waldwegebaus bzw. -nutzung zu übersehen, in dreifacher Ausführung an jeder Rückegasse nach rechts. Mehrere Meter breit, tief zerfahren, im Matsch versinkt man im Nu bis zu den Knöcheln. Manche Spuren führen sogar in den Bestand hinein. Tummelplatz für die Vollernter?

185 Moderner Waldwegebau

Der Weg tritt bei der Gelben Au aus dem Wald heraus. Warum sie wohl gelb ist? Mir gefallen diese alten Gewannnamen: „Bauernzipfel“, „Steinig Knöckle“.

Der Blick weitet sich nach Süden und Südosten. Ein bunt belaubter Birnbaum mit Doppelstamm bewacht den Wegrand. Bei der Einmündung eines Waldwegs steht eine der wenigen Bänke auf der Strecke. Ich brauche eine Weile, bis ich herausfinde, daß sie einlädt, bei den Vorfahren zu verweilen. Gleich dahinter liegt nämlich eine ganze keltische Grabhügelgruppe, allerdings sehr versteckt im unterholzreichen Wald. Wer es nicht weiß, findet sie nicht. Auch ich entdecke nur ein oder zwei Hügel, die ich meine als Grabhügel zu erkennen. Ich begrüße die Ahnen und bitte sie um Segen für meinen Weg.

Auf einer freigeschlagenen schmalen Schneise, mitten in den Huflattichblättern, eine Gruppe von Pilzen: noch oder gerade im Zerfall wunderschön.

196 Verrottende Pilze

Übrigens scheinen die hallstattzeitlichen Ahnen etwas gegen Hochsitze zu haben: nach dem Ebersberger der zweite Hochsitz neben oder auf einem Grabhügel, der umgefallen ist.

An der nächsten Kreuzung hinter dem Waldende wurde ein etwa 4000 Jahre altes trapezförmiges Steinbeil gefunden, also noch einmal gut 1000 Jahre älter als die Grabhügel.

Auf dem Schotterweg, der ein Stück parallel zur Straße verläuft, stolpere ich beinahe über eine Riesenraupe. Das Tier, nicht die Maschine. Sie ist über 10 cm lang und trägt am Hinterende ein Hörnchen. Zuhause identifiziere ich sie als Raupe des Windenschwärmers, der in manchen Jahren aus Nordafrika einfliegt, über die Alpenpässe, und sich während des Fluges auf 40°C aufheizt.

202 Riesenraupe

Wieder geht es auf ein Waldfleckchen zu, vom Herbst bunt getupft. Von hier aus zieht quer durch das Feld die „Donnersteige“ nach unten, Richtung Crispenhofen. Eine Sage erzählt von Männern mit feurigen Hacken, die hier gesehen wurden. Feuer (Blitze) werfende Männer auf der Donnersteige, die fast schnurgerade ist wie viele uralte Prozessionswege: Da liegt es nahe, an einen Donar-Prozessionsweg zu denken, der vom Tal auf die Höhe führte, die Hohe Straße kreuzte und vielleicht beim Gewann „Breiter Baum“ an einer heiligen Eiche endete.

208 Donnersteige

Die erste und auch einzige Informationstafel über die Hohe Straße entdecke ich hier am Wegrand. „Ein Weg am Pulsschlag der Jahrtausende“: Handelsstraße, Pilgerweg, Militärstraße, alles in einem. Besonders schön der alte Holzschnitt zur Illustration: Eine mit Hausrat, Kind in einer Wiege und Hund völlig überladene Frau auf einem (ebenso überladenen) Pferd, die es trotzdem irgendwie schafft, beim Reiten auch noch zu spinnen. Hausgeflügel und Schweine wuseln dem Pferd um die Hufe. Daneben schreitet ein Kreuzritter (?) mit Mönchstonsur, der außer seiner Rüstung und seinen Waffen nichts tragen muß, die wohl schon beschwerlich genug sind.

207 Wegtafel für Pfade der Stille

Das Ganze ist eine Station der „Pfade der Stille“. Die (sonntagnachmittägliche) Stille darf man nicht zu wörtlich nehmen. Auf dem Acker daneben zieht ein großer Traktor lautstark seine Runden. Und in Kürze werden auf den Feldern direkt neben der Hohen Straße noch 5 Windkrafttürme mit 200 m Höhe stehen.

Es gibt kaum noch Pfade der Stille in unserer zersiedelten Landschaft.

„Rette deine Seele“ mahnt ein großes Holzkreuz neben einer Bank. Wenigstens sitzen können soll man dabei.

Und noch ein Kreuz, viel größer und aus Stahlstreben. Ein Hochspannungsmast, aber wie soll man das unterscheiden? Ein religiöses Symbol, das eine wie das andere.

Weiter über offenes Feld, immer weiter, begleitet von einer langen Obstbaumreihe.

Ich geh den Weg, den Alten Weg, ein Schritt und noch ein Schritt…. Kilometer, Meilen, Tagreisen, Stadien, Lengen…. Die Zeit löst sich auf.

Das Grün der Wiesen, die herbstliche Buntheit der wenn auch in unzählige Fetzen zerfledderten Wälder tun den Augen gut. Und immer noch läuft der Weg weiter, in sanften Wellen. Er hat etwas ungemein Ziehendes. Es fällt mir schwer, länger als ein paar Minuten zu rasten; ich habe das Gefühl, weitergehen zu müssen, nicht eilig, hektisch, sondern in ruhigem, stetem Rhythmus, der keine Unterbrechung duldet.

224 Diebach

Streuobstwiesen, parkartige Anlagen von Kiefern und buntlaubigen Bäumen, kurzes Gras, Ziegen hinter einem Drahtzaun. Reife Hagebutten hängen wie Korallenketten an den Sträuchern. Unten im Tal sehe ich Diebach liegen. Der feurige Mann, der hier zu manchen Zeiten umgeht, zeigt sich wahrscheinlich nur nachts. Man darf ihn auf keinen Fall verhöhnen, sonst zündet er einem das Haus über dem Kopf an. Auch ein alter Mönch geistert durch Diebach und findet aus nur ihm bekannten Gründen keine Ruhe.

Hier ist mein Ziel für heute, die Kreuzung mit der Straße zwischen Sindeldorf und Diebach, bewacht von einem uralten verkrümmten Baum und einem Stein auf einem Sockel. Keine Inschrift. Nur ein Stein auf einem Stein.

226 Stein auf Sockel

Info: Ahnen

Der Begriff der „Ahnen“, der zunächst ganz wertfrei „Vorfahren“ bedeutet, hat bei uns eine dunkle Geschichte. Unter dem Regime der Nationalsozialisten wurde er mißbraucht, um Menschen mit „nichtarischer“ Abstammung auszusortieren, zu brandmarken und in vielen Fällen zu ermorden. Mit diesem Ahnenverständnis hat das, was ich meine, absolut nichts zu tun. Es geht sowieso völlig an der Realität vorbei, da es „reine“ Abstammungen von was auch immer nicht gibt und nie gegeben hat.

Wer sind meine/unsere Ahnen? Bauern aus dem heutigen Kurdistan und Anatolien, die die Donau hochwanderten und die Landwirtschaft mitbrachten. Halbnomadische Reiter aus Südrussland, die die indogermanische Sprache und Kultur einführten. In der Vökerwanderungszeit Germanen, die das zivilisierte keltisch-römische Südwestdeutschland besiegten. Und später: Hugenotten in Berlin, Millionen von Polen im Ruhrgebiet. Und so geht es weiter… Letztendlich stammen wir sowieso alle aus Afrika (als Homo sapiens sapiens).

Ich gebrauche den Begriff „Ahnen“ jedoch noch in einem anderen Sinn, der über die rein physische Abstammung hinausgeht. „Ahnen“ bei den schamanischen Kulturen sind Vorfahren (die sich auch öfter reinkarnieren können), die eine schützende, ratende und segnende Funktion für die in dieser Realität Lebenden einnehmen. Deshalb wurden sie immer verehrt und letztendlich auf eine göttliche Quelle (z.B. die Sonne, den Himmel, die Erde, heilige Tierwesen etc.) zurückgeführt. So ist es zu verstehen, wenn ein Schamane der Dukha (eines mongolisch-tuwinischen Stammes) sagte:

„Wir existieren im Verhältnis zu drei Dingen: dem Wald, den wilden Tieren und unseren Ahnengeistern. Verlieren wir die Verbindung zu diesen Dingen, dann legen wir unser Schicksal in die Hände von Dämonen.“ (Hamid Sardar, Dark Heavens, 2016, S. 163)

8. Wegstück:  Von Diebach bis Hermuthausen (Oktober)

Die Hohe Straße führt mich als schöner Wanderweg weiter, durch ein Wäldchen und über Wiesen. Ich lasse den alten Mönch zurück und auch den feurigen Mann. Aber vielleicht begleiten sie mich auch noch ein Stück, „die Geister gehen mit“, bis an die Markungsgrenze wird ihre Macht sicher reichen.

Eine seltsame Skulptur steht da am Wegrand, zwei sehr löchrige Rebhühner darstellend. Bei näherem Hinsehen ist es eine Station des Bogenschießparcours. Zum Glück scheinen keine Schützen in der Nähe zu sein.

Die Apfelbäume am Wegrand tragen schwere Lasten, besonders ein sehr alter Baum mit gewundenem Stamm hängt über und über voller leuchtend roter Äpfel.

233 Alter Apfelbaum voller Äpfel

In einem der kleinen Waldstücke, eigentlich nur ein größeres Feldgehölz, bewegt sich etwas Kleines am Fuß eines Baumes. Ich bleibe stehen. Das kleine Wesen steht hochaufgerichtet, es sieht aus wie ein Männlein, ein Gnom ohne Mütze. Wir schauen uns lange Zeit gegenseitig an, keiner rührt sich. Wir tauschen etwas Wort-loses aus. Dann läßt es sich zu Boden fallen und verschwindet mit einer fließenden Bewegung in einem Loch unter der Baumwurzel.

Am Wegrand, zwischen Asphalt und Grasdecke: Hufspuren. Die (bisher) letzten vielleicht von einer jahrhunderte-, nein, jahrtausendelangen Reihe auf diesem Weg.

234 Immer noch Spuren der Ritter

Ein Heiliger Hain, wohl auch einer der letzten von vielen, liegt direkt am Weg. Die uralte „Marieneiche“ lebt noch! Auch wenn nur noch Reste von ihr übrig sind, verglichen mit einer etwa 70 Jahre alten Fotografie: der hohle Stamm und ein Ast, der noch einen Buschen herbstlich brauner Blätter hochhält.

235 Heilige alte Eiche (ND)

Im Stamm die Madonnenfigur, weiß und steif, Platzhalterin für viele Bilder der Göttin, als solche willkommen und verehrt. Lichter und Blumen und ein paar winzige Votivfigürchen, viel Platz ist ja nicht in dem alten heiligen Baum. Aber die Kraft ist noch da und das Leben. Als ich die Augen schließe, sehe ich eine rechtsdrehende Spirale.

237 Meine Vision bei der alten Eiche

Ich wünsche mir, daß dieser Ort heilig bleibt, auch wenn die Eiche diese Ebene verlassen hat.

Schon verlassen haben sie die Hochlandrinder, deren Weide leer daliegt, nur noch eine in Blautönen verblasste Tafel, die über ihre Vorzüge belehrt, das Memento mori für die letzten ihrer Art, Espe und Sarazin, dazugeheftet.

Nach einem kurzen Stück Kreisstraße biege ich ab zu den „Hochholzhöfen“, deren Name für mich immer die Assoziation „Hochöfen“ hervorruft. Seltsamerweise nicht völlig daneben, da die Landwirtschaft hier – für süddeutsche Begriffe – schon einer Industrialisierung nahekommt. Kein alter Bauernhof, keine malerischen schmuddeligen Scheunen, sondern riesige, blankgeputzte Wirtschaftsgebäude, eines nach dem anderen, so daß ich mich schon frage, ob die Bauern von auswärts zur Arbeit herfahren. Aber ganz hinten entdecke ich dann doch noch mehrere Wohnhäuser, eines davon noch im Bau, neu und schick und der Bezeichnung „Villa“ schon recht nahe. Die Baustelle scheint schon von der nächsten Generation errichtet zu sein, ein großes Banner mit den Vornamen eines Paares hängt daran, und die aus Rundballen errichteten Skulpturen eines Brautpaares lassen keinen Zweifel mehr. Und da Landwirtschaft alleine langweilig ist, gibt es noch einen „Western-Freizeit-Stall“.

Die Landschaft ist hügelig, aber leergeräumt. Nur sehr wenige Hecken hier und da. Über einem Rapsfeld geht nicht die Sonne auf (die hat sich den ganzen Tag nicht blicken lassen), sondern die Rotoren mehrerer riesiger Windräder. Schöne neue Welt auf dem Land.

251 Energielandschaft

Die Straße aber trägt mich weiter.

Wieder ein Wäldchen. Und hier werde ich in eine ferne Vergangenheit zurückgeworfen, oder auf der Spirale gedreht. Das ganze Waldstück ist ein keltisches Grabhügelfeld. Der Boden rollt auf und ab, es ist sehr still, sehr feierlich. Immergrün bedeckt weite Teile des Grunds, Zeichen des immer grünenden Lebens, auch wenn gelbe Blätter daraufgefallen sind. Ein verwunschener Ort, der die Zeit aufhebt. Ich singe ihm mein Lied vor; es ist alles, was ich für ihn habe.

260 Grabhügel

Der Feldweg mündet wieder in eine Kreisstraße. Zwei wundervolle alte Eichen wachsen direkt gegenüber der Einmündung. Am Straßenrand gehe ich weiter. Noch einmal ein Abstecher in den Wald: zwei Grabhügel sind hier in der Karte verzeichnet, ich finde nur einen. Und denke daran, daß es in diesem Gebiet noch vor 65 Jahren mehr als 30 keltische Grabhügel gab, obwohl zu dieser Zeit schon viele zerstört waren, und zwar nicht nur durch Beackerung. Die Häfner der Gegend meinten, die Erde der Grabhügel sei für ihre Zwecke besonderes gut geeignet, und trugen sie nach und nach ab. Wie viele es wohl ursprünglich waren? Hundert? Und wie viele Funde von Grabbeigaben sind wohl verlorengegangen? Wie viele Prozessionen zogen auf dieser Straße entlang?

Ich muß die B 19 überqueren, was mir etwas Angst macht, weil die Autos so schnell fahren. Ich renne hinüber wie ein gehetzter Hase. Die Kreisstraße ist zum Glück nur wenig befahren.

Neben der Abzweigung zum Eschenhof liegt eine kleine trichterförmige Senke mitten in der Wiese, aus der wie ein dicker Farbpinsel die bunten Kronen einiger Bäume hervorschauen. Der Karte nach soll dort eine Quelle liegen. Es ist so ähnlich wie beim Weihenbrunnen: eine kleine, aber tiefe Senke mit einer Pfütze auf dem Grund, kein sichtbarer Abfluß. Das Wasser scheint zu stehen. Eine Doline mit Grundwasser vielleicht.

277 Quelle nördlich der Straße

Als ich über die ansteigende Wiese Richtung Eschenhof blicke, erschrecke ich ein wenig: gegen den Himmel hebt sich die Silhouette einer Gestalt mit einem ausgestreckten Arm ab, die eine Art Krone oder zweizipfelige Mütze trägt. Der Wächter der Quelle?

Beim Weiterlaufen wird mir – nicht zum ersten Mal – bewußt, wie einsam diese Landschaft ist. Was nicht das Gleiche ist wie wild oder natürlich. Sie ist stark landwirtschaftlich geprägt mit Äckern und Wiesen, dazwischen kleine Waldstückchen, das Ganze leicht hügelig. Aber kein Dorf, erst recht keine größere Ortschaft. Nur kleine Weiler und Einzelhöfe, weit verstreut; aber auch diese liegen fast alle abseits der Hohen Straße oder „Hohstraße“, wie sie hier heißt.

Auch von Hermuthausen sind nur die Dächer und der obere Teil des spitzen Kirchturms zu sehen. Es war einmal: eine alte Zollstätte und „hohenlohische Geleitstation“.

287 Blick auf Hermuthausen

Auch hier ist den Geschichten nach ein Reiter ohne Kopf unterwegs. Er bekämpfte einen Bauern, der eine alte Eiche fällen wollte. Ein mächtiger Naturgeist? Oder eine Erinnerung an den südgermanischen Gott Wodan auf seinem achtbeinigen Schimmel?

9. Wegstück:  Von Hermuthausen bis Heimhausen an der Jagst (November)

Wieder einmal laufe ich am Rand einer Landstraße, die Autos rasen mit 80 – 100 km/h an mir vorbei. Deshalb wechsle ich nach kurzer Zeit an den Grasrand neben dem Acker, auch wenn er sehr uneben und von Mäuselöchern durchsetzt ist.

Wie von fast überall auf der Hohen Straße kann man weit in die Ferne sehen. Heute weht ein scharfer Wind. EIn Waldstück wie viele hier, klein und von der Straße durchschnitten, die Bäume sind schon kahl. Rötliches Buchenlaub bedeckt den Boden. nach kurzer Zeit öffnet sich wieder freies Feld, und hier biege ich erleichtert in eine kleine Kreisstraße ein, die zum Railhof führt. Wie die meisten Agrarbetriebe ist er ziemlich häßlich und rein zweckbestimmt.

Felder, Wiesen, Waldkleckse, Hochspannungsmasten und viel Himmel mit schnell ziehenden Wolken. Sechsbeinige Spinnen ziehen ihre Fäden in endlosen Linien über die Landschaft, eine nach der anderen.

306 Hochspannungsleitung

Vor einem Miniwäldchen liegt ein Teich, offensichtlich in einer Aufschüttung künstlich angelegt. Hellbraunes Schilf und ein paar Rohrkolben rahmen ihn ein.

Eine einsame Scheune mit einem einzelnen Baum daneben zeichnet sich als winzige Silhouette gegen einen riesigen Wolkenhimmel ab.

307 Scheune und Baum vor Himmel

In einer Senke bewegen sich bunte Flecken: braun, schwarz und weiß. Ich nehme mein Fernglas. Es sind Kühe, die hintereinander in einer Reihe zu dem Tränkewagen trotten, ohne Eile. Nach meiner Karte entspringt ziemlich genau an dieser Stelle der Hetzlesbach, dessen Klinge mich ins Jagsttal führen wird. Von hier an geht es stetig abwärts, sehr ungewöhnlich für die „Hohe Straße“. Aber um den Fluß zu überqueren, ist sie ausnahmsweise dazu gezwungen.

Immer tiefer schneidet sich die Klinge ein. Dabei ist das Bächlein, das sie gegraben hat, so winzig und vom Weg aus gar nicht zu sehen in seinem tiefen Bett unten im Wald.

312 Hohe Straße und Klinge

Die Hänge sind hier wieder bewaldet, nur an der Straße entlang ziehen sich ab und zu Obstwiesen mit knorrigen, bemoosten, halb umgestürzten Apfelbaumveteranen. Blaßgelb leuchten an ihnen die letzten Novemberäpfel. Zwischen ihnen kommen die ersten Häuser von Heimhausen in Sicht, meinem Ziel auf diesem langen Weg. Oben kreist ein Bussard im Aufwind.

Ziel? Ein Dorf wie viele, noch etwas mehr alte Häuser, die zum Teil aber recht traurig aussehen oder lieblos renoviert worden sind, von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen. Hier ist nun auch endlich der Hetzlesbach zu sehen, sogar eine steinerne Brücke führt darüber. Viel Wasser hat er nicht. In der Dorfmitte ein kleiner schlichter Brunnen aus zwei Steintrögen. Die Wegweiser sehen rostig und ungepflegt aus. „Kulturwanderweg“.

Da ist auch schon die Jagstbrücke mit drei klobigen steinernen Bögen. Der Hetzlesbach mündet hier pfützenweise in den Fluß. Jagstaufwärts und -abwärts leicht gewundene, von Bäumen gesäumte Ufer. Zwei Schwäne „stehen“ im strömenden Wasser stundenlang an fast der gleichen Stelle.

330 Jagstbrücke und Mündung des Hetzlesbachs in die Jagst

Hier war der Fluß noch vor wenigen Monaten biologisch tot. Wie es ihm jetzt geht, sieht man von hier oben nicht.

Ich überquere die Brücke, so wie es die Hohe Straße, die hier eine niedrige Straße ist, auch tut. Neben einem Fachwerkhaus ein bemaltes altes Weinfaß mit dem schon recht abgeblätterten Spruch: „Solange dir der Becher winkt, Genisse deine Tage, Ob mann da Oben auch noch trinkt, Ist eine grosse Frage.“

336 Fassaufschrift mit kreativer Orthografie

Wie sieht’s aus, ihr Ahnen? Die keltischen unter ihnen trinken mit Sicherheit weiter…..

Kurz nach der Brücke zweigt die Hohe Straße nach rechts ab und windet sich in einer langen Serpentine den Hang wieder hinauf, nach oben, wo sie hingehört.

Wieder spüre ich ihren Zug: weiter, weiter…..

Aber ich widerstehe.

Nein, Heimhausen ist und war trotz seines Namens kein Ziel. Nur eine Furt an einem Fluß.

339 Die Hohe Straße geht hier weiter